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Inhalt:                                               
  "Lebenslinien" ist die Fortsetzung von "Der Kuss" und beantwortet die Frage, die wir uns immer nach einem Happy End stellen: Wurden sie wirklich alt und glücklich? 
  "Lebenslinien" erzählt draüber hinaus auch die Geschichte von Zoes Familie, den Schusters, und beginnt im Jahre 1870 …


Leseprobe:

 1870: Das knappe Schicksal des Weidenbaums

Josef trieb die Hacke tief in das Erdreich, zog sie heraus und öffnete damit das Nest junger rostbrauner Kartoffeln. Noch ahnte er nicht, dass der Kartoffelanbau schon bald das Überleben der Schusters sichern würde.
    Beim Gedanken, welch leckere Gerichte man mit der gelben Erdfrucht kochen konnte, wurde ihm der Mund wässrig. Seit Wochen gab es nur Brot und Suppe, ab und an einmal mit einem Ei, frischen Kräutern oder einer Brotkruste verdickt. Fleisch hatte er lange nicht in seinen jungen, zwölfjährigen Magen bekommen. Die Schlachthühner mussten sie auf dem Markt verkaufen, um wichtige Lebensmittel wie Mehl und Salz zu erstehen und um die Steuern zu bezahlen, was einen hungrigen Bauch nicht satt machte. Dabei schoss Josef in die Höhe, war bereits so groß wie seine Mutter und hatte ständig Hunger. 
   »Und wenn du schon dabei bist, rupf das Unkraut aus! Wenn unser Vater heim kommt, wird er uns ein faules Pack schimpfen.«
   Die schrille Stimme der Mutter hallte über die Mauer der Baikate hinweg und selbst der leichte Herbstwind konnte die Sorge darin nicht wegblasen.
   »Der kommt doch nicht mehr nach Hause!«, raunte Josef in seinen nicht vorhandenen Bart hinein. Kaum einer kam vom Krieg zurück. Nur der Krieg selbst, der kam näher und wenn er noch lange anhielt, würde man auch ihn einziehen. Aber noch war er zu jung und musste seiner Mutter helfen, den Hof zu bestellen. Oft hatte er sich beim Gedanken ertappt, dass es gar nicht so schlimm wäre, wenn der Vater nicht mehr kommen würde. Urban Schuster war ein grober, zynischer Mann, der schneller Prügel verteilte wie man Amen sagen konnte. Seit er weg war hatte die Mutter weniger geweint, und nichts deutete daraufhin, dass sie ihn wirklich vermisste. Das letzte, was Josef seine Mutter am Vorabend, ehe der Vater am nächsten Morgen in den Krieg zog, sagen hörte, war: Bleib mir heut Nacht von der Wäsche, ich brauche nicht noch ein Maul zum Stopfen!
    Josef hackte einen Stock Kartoffeln nach dem Anderen auf und als er die unterschiedlich großen Knollen sah, musste er an seine drei Schwestern denken. Die etwas einfältige Rosa, die zwei Jahre älter als er war und sich am liebsten unterordnete, Mathilde, die erst drei Jahre zählte und ein Wildfang sondergleichen war, und Karla, die mit sieben Jahren zwischen ihm und Mathilde lag und ständig hustete. Bei Vitus, seinem Bruder hatte es auch so angefangen und der war noch nicht einmal ein Jahr alt geworden, ehe er starb. Ob Karla den nächsten Winter überleben würde, war mehr als fragwürdig.
    Josef liebte seine Geschwister und versuchte allen die Arbeit abzunehmen. Bei sorgevollen Gedanken arbeitete Josef automatisch schneller, dabei bestand er selbst nur noch aus Haut und Knochen. Woher er die Kraft nahm, wusste er selbst nicht und er machte sich auch keine Gedanken darüber. Am Abend wollte er noch im Wald Holz suchen. Er musste unbedingt mehr Brennmaterial besorgen und für den Winter einlagern, damit Karla in der feuchten Stube nicht fror. 
    ‚Unkraut jäten’, rief er sich in Erinnerung, als er die dritte Reihe Erdäpfel ausgebuddelt hatte und den wilden Grünwuchs zwischen den ersten beiden sah. Zornig über die stumpfsinnige Arbeit kehrte er zurück und begann wie besessen die Grasbüschel, meist Disteln und Löwenzahn, auszureisen. ‚Holz holen wäre viel wichtiger! Karla! Karla braucht warme Suppe und ein kräftiges Feuer am Abend, das bis unter die Dachziegel für Wärme sorgt!’
    In der zweiten Reihe stieß er plötzlich auf Widerstand. Und als er mit seinen Gedanken zur Arbeit zurückkehrte, hielt er einen ca. zwei Zentimeter dicken Stängel mit kleinen Zweigen am oberen Ende in den Händen, der sich partout nicht herausreisen lassen wollte. Plötzlich war er sich unsicher, was diese Pflanze betraf. Es war sicher kein Unkraut.
    »Soll ich diesen Baum auch wegmachen?«, schrie er und erwartete, dass seine Mutter über die Mauer spickte, was sie nicht tat.
    »Was ist es denn für einer? Wenn er eines Tages irgendetwas Verwertbares bringt, lass ihn stehen, wenn nicht, weg damit!« In Ilse Schusters Stimme klang Verbitterung mit. Er hatte sie seit Jahren nicht mehr ohne diesen Unterton reden hören. Und seit der Vater im Krieg war, hatte sie an seiner Statt kräftig Hiebe ausgeteilt. Besser, er würde erst gar nicht fragen, wie man einen nützlichen Baum von einem unnützen unterschied.
    Josef betrachtete sich den etwa einen Meter hohen Stängel genauer. Sicher war dies seltsame Gewächs kein Obstbaum und auch kein Ableger von Büschen, wie den Brombeeren oder Himbeeren, die in unmittelbarer Nähe wild aufgingen. »Ich weiß nicht, was es ist … sieht auf jeden Fall aus wie ein Baum!«, sagte er nun doch zögerlich und erntete wie erwartet eine heftige Antwort. 
   »Dann lass mal stehen!«, brüllte seine Mutter aus dem Fensterloch, walkte die Wäsche mit schwieligen, von Lauge verfressenen Händen energisch durch und zischte: »Wenn die Franzosen anrücken, werden sie ihn eh platt machen und uns gleich mit.« Sie glaubte fest, dass sie kommen würden. Der Krieg war nahe an sie herangerückt und die Marktfrauen sprachen von nichts Anderem mehr.    Josef betrachtete noch einmal kurz das Weidenbäumchen, schüttelte den Kopf und rupfte weiter Gras aus. »Ich hoffe, dass du irgendwann einmal zu etwas Nützlichem zu gebrauchen bist!«